Die Digitalisierung als Chance im deutschen Gesundheitswesen. Ein Interview mit Inga Bergen

Inga Bergen ist Unternehmerin und langjährige Expertin für Innovationen im Gesundheitswesen. Als Geschäftsführerin baute sie unter anderem das Startup magnosco auf, das die Hautkrebsdiagnostik mittels Laser-Technologie und Künstlicher Intelligenz revolutioniert. Seit 2021 ist Inga Bergen als freie Beraterin, Beirätin und Investorin tätig und bringt ihre Expertise in Projekte ein, die zum Ziel haben, das Gesundheitswesen und die Medizin von morgen zu gestalten.

 

Inga Bergen ist aktuell Sprecherin des Beirats für Ethik und digitale Transformation bei der AOK Nordost, Mitglied im Innovation Board der Zur Rose Gruppe, in Beiratsfunktionen, als Autorin, Speaker und Moderatorin zum Thema Digitale Transformation im Gesundheitswesen tätig.

 

Zusammen mit Larissa Middendorf stellt sie im Podcast Visionäre der Gesundheit, Wissenschaftler:innen, Ärzte:innen, Unternehmer:innen und Persönlichkeiten vor, spricht mit ihnen über ihre Visionen und darüber, wie Gesundheit in Zukunft aussehen könnte.

 

Denn Inga Bergen sieht die Digitalisierung als Chance, Veränderungen im eingefahrenen deutschen Gesundheitswesen voranzubringen. Weg von einem Gesundheitssystem, welches teuer für das Behandeln von Krankheiten bezahlt, hin zu einem System, das Früherkennung, gesund werden und gesund bleiben, unterstützt.

 

Worin liegt aus deiner Sicht der Vorteil mittels Kooperationen im Gesundheitswesen mit Patient:innen und Patientenorganisationen und warum sollte diese stärker unterstützt und gefördert werden?

 

Moderne Gesundheitsversorgung muss sich an den Bedürfnissen von Menschen ausrichten, über Fachrichtungen und Hierarchien hinweg. Das Gesundheitswesen in Deutschland ist per Defintion bisher nicht an Patient:Innen ausgerichtet, sondern „Arztzentriert“. Unter dieser Ausrichtung leiden nicht nur Patientinnen und Patienten, sondern auch alle anderen Heilberufe, die nur als Hilfsberufe betrachtet werden – und moderne Ärztinnen und Ärzte natürlich auch. Für viele Akteure im Gesundheitswesen ist es neu, sich mit Bedürfnissen von Patient:Innen zu befassen. Auslöser ist die Digitalisierung, sie zerrt sozusagen an die Oberfläche, was alles nicht läuft. Patient:Innen von heute vergleichen die Customer Experience, die sie im Gesundheitswesen machen, mit anderen Bereichen des Lebens – wie leicht verständlich ist etwas, wie einfach ist der Zugang, wie schnell bekomme ich Antworten auf meine Fragen, warum muss ich hunderte Zettel doppelt und dreifach ausfüllen und warum kann mir meine Arztpraxis keine Email schicken?

 

Ein an Patient:Innen ausgerichtetes Gesundheitswesen birgt viele Chancen, denn heute lassen wir eine wichtige Ressource ungenutzt: die Patient:Innen selbst – denn Patient:Innen, die ihre Gesundheit verstehen, die eine Therapieentscheidung aufgeklärt treffen können, haben eine viel größere Chance, gesund zu werden und eine bessere Lebensqualität zu erreichen. Laut Studien der Bertelsmann Stiftung nimmt die Gesundheitskompetenz in Deutschland ab – wenn Menschen diese selbst einschätzen. Ich glaube eher, dass die Befragten sich realistischer einschätzen und einfach überfordert sind, wenn sie zum Beispiel im Internet nach Informationen zu ihrer Gesundheit suchen. Damit sich Akteure im Gesundheitswesen stärker an Patient:Innen ausrichten können, müssen sie deren Bedürfnisse verstehen. Eine Möglichkeit ist natürlich eine Kooperation mit einer Patient:Innen-Organisation, eine weitere Möglichkeit ist es, Lösungen zu entwickeln und diese mit ganz normalen Patient:Innen zu testen, bzw. deren Alltag und Alltagsbedürfnisse zu verstehen. Um dies zu tun, gibt es viele Methoden, die in anderen Branchen gang und gebe sind. Aus meiner Sicht ist dies mindestens genauso wichtig, wie mit Patient:Innen-Organisationen zu reden. An vielen Digitalisierungs-Vorhaben in Deutschland merken wir gerade – die entwickelten Lösungen sind zwar an den Bedürfnissen von Verbänden ausgerichtet, nicht aber an der Realität der eigentlichen Nutzerinnen und Nutzer – und finden deswegen kaum Akzeptanz.

 

Ein digitales Gesundheitswesen bietet durch seine verbesserten Möglichkeiten der automatisierten Erfassung, Speicherung und Auswertung großer Datenmengen (Big Data), eine wesentliche Verbesserung der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention. Woran liegt es deiner Ansicht nach, dass in Deutschland die Digitalisierung bislang so zögerlich vorangeschritten ist?

 

Aus meiner Sicht liegt das an einem Thema, über das kaum jemand im Gesundheitswesen gerne spricht – am Geld. Die Ausgaben für Gesundheit machten in 2020 13% des BruttoInlandProdukts aus – mit stetig steigender Tendenz. 2021 gaben die Gesetzlichen Krankenversicherungen 285 Milliarden Euro aus. Spricht man mit Akteuren im Gesundheitswesen, beteuern alle, wie wichtig die Patient:innen sind. Das Thema Geld wird oft vermieden, oder es kommt erst ganz zum Schluss. Nun ist es aber so: wenn sich ein Gesetz ändert, oder auch nur eine Regel, kann das zur Folge haben, dass Milliarden von A nach B geschoben werden. Viele Menschen verdienen daran, Digitalisierung zu verhindern. Es gibt die Legende, dass bei Abrechnungsdienstleistern der Gesetzlichen Krankenversicherer um die 400 Menschen daran arbeiten, eingesendetes Papier von Heftklammern zu befreien – damit es wieder andere dann einscannen. Und auf der anderen Seite werden digitale Innovationen oft nicht vergütet – wirklich einmalig ist der Vorstoß des Gesetzgebers gewesen, seit 2020 Apps auf Rezept (so genannte DiGA) zu vergüten – heute kann sich diese DiGAs jeder Patient und jede Patientin verschreiben lassen. Hier gibt es auch ein Angebot für Brustkrebs-Patient:Innen, mit psychologischer Unterstützung und Hilfe bei der Bewältigung der Erkrankung & Therapie.

 

Ein weiterer Hinderungsgrund ist das Thema Datenschutz – es wird oft Mißbraucht, um Innovation zu verhindern. In Juristen-Kreisen hört man oft den Witz: Datenschutz ist wichtiger als Menschenleben – ich stimme dieser These zu, so hart es klingt. Wenn wir Daten richtig nutzen würden, könnten wir zahlreiche Menschenleben retten – zum Beispiel Tode durch Wechselwirkungen von Medikamenten zu einem Großteil vermeiden. Hier müssen wir dringend zu einer pragmatischeren Auslegung kommen.

 

Als Sprecherin des Beirats für Ethik und digitale Transformation bei der AOK Nordost, kannst du uns bestimmt bestens erläutern, wie Ethik und Digitalisierung zusammengehören?

 

Für mich geht es darum, eine Haltung zu entwickeln: wie stehen wir zu Digitalisierung, welche Chancen sehen wir, welche Risiken stehen diesen gegenüber – wie können wir abwägen? Viele Menschen treffen diese Abwägung ständig im Alltag. Ich empfinde es als unethisch, Möglichkeiten der Digitalisierung nicht zu nutzen – aber natürlich müssen wir uns auch mit der Frage beschäftigen, ob wir genmanipulierte Menschen, die sich digital erweitern wollen, ob Künstliche Intelligenzen vielleicht irgendwann ein eigenes Bewusstsein entwickeln und wie wir dann damit umgehen. Ethik und Medizin gehören sehr eng zusammen – nicht ohne Grund muss jede klinische Studie einer sogenannten Ethik-Kommission vorgelegt werden.

 

Warum wird der Einsatz Künstlicher Intelligenz das Gesundheitswesen zunehmend revolutionieren, hinsichtlich Datensammlung und Auswertung der Ergebnisse und unser Gesundheitswesen dadurch entlasten?

 

Danke für diese Frage. Zunächst muss ich sagen: ich bin mir gar nicht so sicher, ob Künstliche Intelligenz und Daten das Gesundheitswesen wirklich entlasten werden. Ich wünsche es mir natürlich und es ist auch möglich, aber damit das geschieht, müssten wir Prozesse im System neu designen. Es geht um die richtige Zielsetzung, ich glaube, dass es sehr schwer sein wird, ein ganzes System mit so vielen Akteuren umzustellen. Zunächst wird es viele kleine Lösungen geben, die einzelne Anwendungsfälle vereinfachen – nehmen wir die Beispiele Terminbuchung, Telemedizin und Symptomchecker. Mit moderner Terminbuchungssoftware können Arztpraxen heute schon wesentlich effizienter arbeiten, weil Telefondienst wegfällt. Die Terminbuchungssoftware arbeitet auch mit Algorithmen, weil sie zum Beispiel frei gewordene Termine anderen Interessent:Innen anbietet. Mit Telemedizin können heute schon niedrigschwellig medizinische Leistungen erbracht werden – Patient:Innen müssen nicht extra in eine Klinik oder Arztpraxis fahren. Das hat erst mal nichts mit Big Data und KI zu tun. Richtig interessant wird es, wenn diese Anbieter dann aber auch KI-Lösungen einsetzen, wie zum Beispiel Symptomchecker – zur Anamnese vor einen Gespräch mit Arzt oder Ärztin. Das ist auch gut für Patient:Innen – denn im Gespräch vergisst man oft Symptome, oder die Zeit ist nicht da, um wirklich einen umfangreichen Check zu machen. Symptomchecker nutzen Algorithmen, um mögliche Diagnosen vorzuschlagen – und können zum Teil erstaunliche Erfolge bei der Diagnose seltener Erkrankungen vorweisen. Es gibt mehrere tausend dieser seltenen Erkrankungen und Patient:Innen brauchen zum Teil Jahre bis zur Diagnose. Hier erklärt sich von selbst, wie KI helfen kann, denn kein Mensch kann tausende Erkrankungen im Kopf haben.

 

KI und Big Data ermöglichen auch ganz neue medizinische Leistungen, wie zum Beispiel Genanalysen (gerade in der Onkologie ist das interessant, man beachte Genexpressions-Tests, mit deren Hilfe Therapieentscheidungen getroffen werden können). Der britische National Health Service (NHS) nutzt zum Beispiel Daten, um den Erfolg einer Therapie transparent zu machen. Der NHS-Service Predict gibt Brustkrebs Patient:Innen und Prostata-Krebs-Patienten die Möglichkeit, ihre Tumordaten einzugeben. Anhand von Krebsregisterdaten wird dann berechnet, welche Verbesserung des Überlebens bei verschiedenen Therapie-Optionen eintritt – Patient:Innen können dann auf Basis der Ergebnisse eine Therapieentscheidung treffen, natürlich im Gespräch mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt.

 

Welche digitale Gesundheits-App, sollte deines Erachtens auf keinem Smartphone fehlen?

 

Für mich unverzichtbar sind der digitale Impfpass, die App eines Telemedizinanbieters, die elektronische Patientenakte, ein Aktivitätstracker und meine Meditations-App.

 

Wenn du 10 Jahre vorausblicken könntest: Wie würde sich das Gesundheitswesen im besten Fall bis dahin entwickelt haben?

 

Im besten Fall merken wir Digitalisierung in 10 Jahren gar nicht mehr – sie läuft dann einfach wie ein richtig guter Assistent im Hintergrund.


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