Mein Name ist Julija, ich erhielt mit 35 Jahren, am 3.1.2020, die Diagnose Triple Negatives Mammakarzinom. Meine Kinder waren zu dem Zeitpunkt zwei und fünf Jahre alt und ich hatte große Angst, dass ich die wichtigen Meilensteine in ihrem Leben, wie die Einschulung, nicht miterleben würde. Meine Chemotherapie erhielt ich während des ersten Lockdowns, so saßen wir zu viert in unserer 80 qm Wohnung. Mein Mann hatte mehr zu tun als normal und saß im Homeoffice, von Meeting zu Meeting. Statt die Kinder in die Kita zu bringen, verbrachte ich viel Zeit mit ihnen im Wald. Ich war ständig müde, funktionierte aber und schleppte mich von Etappenziel zu Etappenziel, angetrieben von meinen Kindern.
Ich bin am Rande eines Dorf aufgewachsen, in einem Haus mit großem Garten. Hinter unserem Garten kamen nur noch Felder, Wiesen und Wald. Als Kinder haben wir nur draußen gespielt, unabhängig und frei. Unser Lieblingsspiel im Wald war, aus Ästen und Hölzern Tipis zu bauen und Indianer zu spielen. Oder wir spielten, dass wir elternlose Kinder wären, die im Wald wohnten und sich selbst versorgen müssten. Wir sammelten alles: Blätter, Beeren, Käfer und taten so, als würden wir es essen, oder daraus Suppen kochen. Als ich älter wurde, fuhr ich im Wald mit meinem Mountainbike, oder lief im Winter auf dem zugefrorenen Waldsee Schlittschuh. Ich liebte diese Freiheit als Kind. Dieses Freiheitsgefühl habe ich immer in mir getragen und habe den Wald in vielen späteren Momenten sehr vermisst.
Aus ziemlich konfusen Gründen, studierte ich Wirtschaftswissenschaften und Hispanistik und es trieb mich in die Welt hinaus. So habe ich in einigen Großstädten der Welt gelebt und gearbeitet, obwohl ich ein absolutes Naturkind bin. Sowohl in Buenos Aires, als auch in Berlin, fehlte mir das Grün, die Weite der Natur, der Blick über eine hügelige Landschaft. Die Luft zum Atmen fehlte, die Ruhe, die Farben.
Dann kam ich nach Albanien. Es war das Land, in dem ich meine schönsten Naturerlebnisse hatte. Natur pur: abgelegene Berge und Täler und das Meer. An einem schönen Februartag verbrachte ich einen Vormittag auf dem Hausberg Tiranas in Schnee und Sonne und den Nachmittag am Strand, unweit der Stadt gelegen. Ich wanderte zu unberührten Stränden, erklomm die entlegensten Bunker und zeltete am See. Ich war glücklich und hätte nicht glücklicher sein können.
Und trotzdem habe ich diese inneren Antreiber auf die ich hörte und die mich immer weiter trieben. So ließ ich mich an einer Journalistenschule zur PR-Beraterin ausbilden und arbeitete als Beraterin, kehrte zurück nach Deutschland, gründete eine Familie, bekam zwei Kinder und wollte alles. Höher, schneller, weiter. Berufliche Karriere, die perfekte Mutter sein, alles unter einen Hut bekommen, ohne Hilfe und ohne dabei an mich selber zu denken. Ich hetzte von A nach B, gab viel auf die Meinungen anderer, anstatt auf meine innere Stimme zu hören. Ich hatte nicht mal Zeit zum Essen und lebte im totalen Stress, immer über meine körperlichen Grenzen hinaus. In mir immer die Sehnsucht nach der bekannten Freiheit. Vor lauter Eile hatte ich vergessen was mir gut tut. Ich hätte das Tempo herausnehmen müssen, um wieder klare Gedanken fassen zu können.
„Wenn du es eilig hast, gehe langsam.“
Ich erkannte es nicht, statt dessen zwang mich erst der Krebs in die Knie. Natürlich war der Stress nicht DER Grund für die Erkrankung. Letztendlich waren die Akuttherapie, gepaart mit der Pandemie, für mich der Ausstieg aus meinem Hamsterrad-Leben. In der Zeit habe ich viel geschrieben, um zu verstehen und suchte mir meine Ruheorte im Wald. Dem Ort, an dem ich mich frei fühle. Irgendwie schaffte ich es so mich neu zu sortieren. In erster Linie schrieb ich, um mich zu verstehen und mit der Zeit fand ich immer mehr die Lösungen für mich. Dank der Unterstützung meiner Psychoonkologin stelle ich fest, dass ich hochsensibel bin und dass das Gefühl, das ich mehr Ruhe und Zeit für mich benötige als andere, kein Hirngespinst war.
So kam es, dass nicht nur das Schreiben, sondern auch der Wald mein Coach wurden. Während der Erkrankung war der Wald der Ort, wo ich zur Ruhe fand, wo ich weinte, lachte und Hoffnung schöpfte. Der Wald hat mich wieder zurückgeführt, zu meinen Wurzeln, zu dem was mich ausmacht und was ich gerne bin. Im Wald nehme ich das Tempo raus und denke klar.
Während der Krebstherapie habe ich gespürt, dass mir der Wald gut tut und habe angefangen zu recherchieren. So bin ich auf Waldbaden gestoßen und habe das Buch von Array, der Biophilia-Effekt gelesen. Die Wissenschaft kann mein Gefühl bestätigen, dass der Wald einen positiven Effekt auf uns Menschen hat. Er stärkt unser Immunsystem, lässt uns besser atmen, erhöht unsere natürlichen Killerzellen im Blut und senkt unsere Stresshormone. Für mich war klar, dass möchte ich lernen und an andere Menschen weitergeben. Nun bin ich Trainerin für Waldbaden – Achtsamkeit im Wald.
Auch bei einem Spaziergang durch den Wald haben wir diese gesundheitsfördernden Effekte. Beim Waldbaden allerdings gehen wir langsam, abseits der Wege, ohne Ziel. Wir schlendern und machen es so wie es Kinder in der Natur tun. Wir entdecken und staunen und sind im Moment. Mit dem Unterschied, dass wir all dies leise tun. Wir sind im Wald und machen nur das und vergessen alles um uns herum: Terminplanungen, Mails und Nachrichten. Beim Waldbaden gibt es eine Reizunterbrechung und so üben wir uns beim Waldbaden in Achtsamkeit. Wir fokussieren uns und lassen unsere Gedanken laufen. Wir schalten unsere Sinne an und unseren Kopf aus. Eine Zen-Weisheit sagt: „Wenn du trinkst, trinke, wenn du gehst, gehe“ und beschreibt mit nur ein paar Worten was es heißt, sich zu fokussieren.
Das Waldbaden hat seit den 80er Jahren Tradition in Japan und heißt dort shinrin-yoku. Es wurde dort als Konzept der Naturtherapie und zur Erholung geprägt und hat seine Wiege im Akasawa Natural recreation Forest, nahe Agematsu. Dieser Wald gilt als einer der schönsten Wälder Japans, mit Zypressen, die mehr als 300 Jahre alt sind. Im Jahr 1970 wurde dieser bereits zum ersten Erholungswald Japans ernannt. Mittlerweile gibt es in Japan 60 solcher Wälder. Studien des bekanntesten Forschers in Japan, Prof. Qin Li der Nippon Mediacal School in Tokio, belegen die Wirkung des Waldbadens auf die Psyche, unser Stresssystem und unser Immunsystem. Waldbaden ist eine nachgewiesene effiziente Vorbeugung stressbedingter Störungen, Herz-Kreislauferkrankungen, Stoffwechselstörungen, wie Diabetes Typ II, Autoimmunerkrankungen und Krebs.
In den Wald zu gehen ist einfach,
es kostet nichts und es muss definitiv nicht mit Nebenwirkungen gerechnet werden.
Dank meiner Erfahrungen, gehe ich heute achtsamer durchs Leben und nehme viel mehr Rücksicht auf meine Bedürfnisse. Tue vieles was mir gut tut und nehme mir mehr Auszeiten. Meine Krebsreise war für mich wie ein Heimkommen zu mir selbst. Ich will mich nicht mehr verbiegen und anpassen, mich ständig aufgrund meiner Hochsensibilität überfordert fühlen. Und wenn ich doch mal in den Strudel gerate, gehe ich ohne mein Handy in den Wald und tauche für ein paar Stunden ab.
Denn das heißt Waldbaden auf Japanisch:
„Abtauchen in die Atmosphäre des Waldes“: shinrin yoku.
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