„Ich hasse meine Narben“, sprach Sabrina, als wir uns bei mir zu Hause nach langer Zeit mal wieder auf einen Mädels-Nachmittag verabredet hatten. Viel zu selten schaffen wir es, uns zu sehen und so hatten wir einiges zu berichten und es uns auf meiner Couch gemütlich gemacht. Ihre Worte erzeugten einen stechenden Ruck durch meinen Körper. Ich war erschrocken. Solch eine harte Seite kannte ich noch gar nicht an ihr. Meine Hoffnung, sie missverstanden zu haben, musste ich schnell aufgeben. Sie meinte es ernst. Ihr Blick, genauso hart wie ihre Worte, richtete sich abwertend auf zwei scheinbar frische Narben am rechten Oberschenkel, wie ich aus deren leicht rosé schimmernden Farbe schlussfolgerte. Wiederholt rieb sie druckvoll mit ihren Fingern über die beiden Narben am rechten Oberschenkel, als ob sie dadurch wegradiert werden würden.
„Warum?“, fragte ich und unterbrach sie damit in ihrer monotonen Fingerbewegung. Meine Frage war keineswegs überzogen gemeint. Sie war ehrlich und kam aus meinem tiefsten Inneren. Als Antwort auf mein „Warum“ blickte sie mir nun genauso verwundert entgegen, wie ich sie aufgrund ihrer zuvor getroffenen Aussage unverständlich angeschaut haben musste. Sie verstand nicht, wie ich sie das fragen konnte. War sie doch der festen Überzeugung, ihre Haltung sei das natürlichste der Welt. „Na weil sie hässlich sind!“, gab sie mir zur Antwort und änderte ihren Blick in volle Überzeugung. Anhand ihrer nun leicht aufgerichteten Körperhaltung konnte ich erkennen, dass sie spätestens jetzt von mir Verständnis und Zuspruch erwartete. Für einen kurzen Moment hielt ich inne und ließ die ausgesprochenen Worte nachhallen, während sich unsere Blicke nicht voneinander lösten. Schließlich nahm ich ihre Hand in meine, woraufhin sich ihr Blick und ihre Schultern wieder etwas zu entspannen schienen. „Schatz, jede dieser Narben ist wundervoll, denn sie ist ein Teil von Dir und erzählt deine Geschichte!“, sprach ich zu ihr und empfand nur Liebe in diesen Worten. Ihre Augen weiteten sich, während ihr Mund weiter stumm blieb. Sie hatte die Worte gehört, doch prallten sie noch verständnislos an ihrem Körper ab. „Hast Du schon einmal was von Kintsugi gehört?“, nahm ich den zweiten Anlauf und unterbrach wieder die Stille. „Nein“ antwortete sie recht kurz mit einem leichten Kopfschütteln. „Gut“, erwiderte ich, „dann möchte ich dir nun etwas über Kintsugi erzählen“.
Mein Name ist Monique, ich bin heute 42 Jahre jung und war gerade Anfang 30, als ich die Erstdiagnose Brustkrebs erhielt. Nichts, was sich irgendwie vorher angedeutet oder mich Familiär bedingt vorgewarnt hätte. Es kam gefühlt aus dem Nichts. War ich doch stets bei allen Kontrollen und habe bereits sechs Monate zuvor der überzeugten Meinung meiner Ärztin, „Frau Koller, es ist nur eine Zyste“, geglaubt und mich in Sicherheit wog. Mein Leben war in vollkommener Ordnung, dachte ich. Doch habe ich der Aussage meiner Ärztin wirklich geglaubt und mich sicher gefühlt? Wenn ich ehrlich bin: Nicht wirklich! Rückblickend muss ich mir genauso ehrlich eingestehen, dass ich die Aussage meiner Ärztin gerne genutzt habe, um weiterhin in meiner Komfortzone zu bleiben. Es gehörte einfach zu meinem Alltag, meine gesamte Aufmerksamkeit meinem zu diesem Zeitpunkt beruflich sehr karriere-orientierten und freizeitbefreiten Leben zu schenken. Doch neben den drängenden Worten meiner Mutter, mich zu einer Zweitmeinung zu begeben, gab es auch in meinem Inneren ein Gefühl, das mich – oder besser gesagt, das sich nicht mehr ignorieren und stoisch zur Ruhe bringen ließ. Und hätte ich schon damals gewusst, dass mich das Thema Krebs (be)treffen und noch weitere elf Jahre meines Lebens begleiten wird, hätte ich damals sicher nicht so verdrängend reagiert. Doch ich war Anfang 30. Mein Leben schien erst richtig los zu gehen! Ich stand gefühlt Mitten im Leben und neben all den schönen Dingen, die mich umgaben, die ich erlebte und wofür ich arbeitete, schien mir Gesundheit als selbstverständlich. Heute, elf Jahre später, ist Schönes schon lange nicht mehr dinglich und das Einzige, wofür ich arbeite ist meine Gesundheit. Denn diese, ist wahrhaftiger Luxus geworden!
„Wenn sie unbedingt darauf bestehen, operieren wir sie eben. Das gibt aber Narben!“, erhielt ich als Antwort von einem Oberarzt, den ich für eine Zweitmeinung hinzugezogen und um Entfernung der „Zyste“ gebeten hatte. Er vertrat die gleiche Meinung meiner Ärztin und empfand meinen Wunsch als überzogen, fast schon lächerlich, was er mir mit seiner schroffen Art des Antwortens und seinem herablassenden Blick unmissverständlich zu verstehen gab. Und nun versuchte er taktisch das, wovon er sicher war eine junge Frau am ehesten überzeugen zu können und ihre Meinung zu ändern: Er lenkte den Fokus auf den aus der Operation absehbaren „Schönheitsmakel an der Brust“. „Dann gibt es eben eine Narbe!“, antwortete ich und war genauso verwundert über diese, meine Lippen eigenmächtig sprechenden Worte, wie bereits schon bei der zuvor getroffenen, jedoch nicht zutreffenden Behauptung meinerseits, ich hätte Schmerzen an der Brust und wolle deshalb die „Zyste“ entfernt haben. Überwältigt von meiner eigenen Courage und gleichzeitig tiefe Angst spürend, kullerten mir ein paar Tränen die Wangen hinunter. „Aber bitte entfernen sie es „schön!“, ergänzte ich während ich noch nach Fassung rang. Tuché! - Seine Taktik hatte mich doch ein wenig getroffen. An seiner dann folgenden Reaktion wurde mir jedoch schnell klar, dass es ihm um „Schön“ und „Narbenfreiheit“ gar nicht ging. Offensichtlich unzufrieden darüber, dass ich trotz seines Abratens auf die Operation bestand, verließ er den Raum mit schwungvoll zuknallender Tür, noch bevor ich mich wieder vollständig anziehen konnte. Ich spürte Ärger in mir aufkommen und empfand es als äußerst despektierlich, mich halb nackt mit freiem Oberkörper, einfach wie ein wertloses Stück Fleisch in diesem kalten Untersuchungszimmer zurück zu lassen und das Gespräch so abrupt zu beenden. Ich fühlte mich verletzt und abgewertet. Da sprechen Menschen von äußerlich sichtbaren Narben und werten sie als Schönheitsmangel und vergessen dabei all die Narben, die sie durch unschönes Verhalten im inneren der Menschen hinterlassen. Ich schaute an meinem nackten Oberkörper hinab und betrachtete meine Brüste. Wieder tastete ich den Knoten. In mir entstand ein Feuer, das sich wie eine Spirale bis in mein Herz zu zwirbeln schien und mir den Impuls für den nächsten Gedanken lieferte. „Na dann hab‘ ich eben eine Narbe!“, dachte ich mutig und selbstbewusst, bis mich in der nächsten Sekunde leichte Angst überkam. Mein Fragen-Karussell drehte sich weiter. „Wird von meiner Brust überhaupt noch genügend übrig sein?“, schließlich war die „Zyste“ schon Golfball-groß und meine Brust gerade mal ein knappes B-Körbchen! „Wird meine Brust noch schön aussehen und ich mit Narbe meinem Freund gefallen?“ Ich zog mich, überwältigt von einer emotionalen Achterbahn, wieder an und verließ das Krankenhaus. Erst als ich eine gefühlte halbe Stunde ohne den Zündknopf zu betätigen, stumm in meinem Auto saß, konnte ich wieder einen klaren Gedanken fassen! „Ich will das Ding raushaben, es fühlt sich nicht gut an! Ganz egal, wie meine Brust danach aussieht!“ Da war sie wieder, die innere Power-Stimme, die mir auch zuvor diese Impulse gegeben hatte, diesen Weg zu gehen. Wer oder was oder woher sie kam? Eines ist sicher, sie rettete mir das Leben!
„Kintsugi kommt aus Japan“, führte ich das Gespräch mit Sabrina fort und löste dabei langsam meine Hand aus dem mittlerweile festen Handgriff meiner Freundin. “Es ist eine von langer Tradition geprägte Methode, zerbrochene Keramik sorgsam, kunstvoll, in einem mehrstufigen Prozess zu reparieren“. Sie schaute mich verwundert an und konnte meinen Worten offensichtlich noch nicht ganz folgen.
„Für mich sind all diese Narben auf unserem Körper, wie sorgsam, kunstvoll und in einem mehrstufigen Prozess, liebevoll „reparierte“ Brüche einer sensiblen Keramikschale. Sie sind scheinbare Makel, die wir mit unserem Blick, unserer Güte, unserer Pflege, Liebe und Geduld – als das erkennen lernen können, was sie tatsächlich sind! Ein wunderschöner Teil von uns, der uns genau so (er)scheinen und (er)strahlen lässt, wie wir heute sind!“ Sabrina war nun offen für meine Worte und folgte diesen still und aufmerksam.
Ich zog den Kragen meines Shirts zur Seite und zeigte ihr die Narbe unter meinem linken Schlüsselbein. „Schau, ich habe auch ganz viele Narben, die hier ist durch den Port entstanden, den ich mir für die Chemotherapie habe setzten lassen“, fing ich an aufzuzählen und schob mit dem nächsten Griff das Shirt über meinen Bauchnabel. „Und diese Drei habe ich durch die Kryokonservierung erhalten, der mir vor der ersten Chemo angeraten wurde, um für meinen Kinderwunsch vorzusorgen“. Ihre Blicke folgten weiterhin aufmerksam und stillschweigend meinen Fingern. Ich zog mein Shirt wieder über den Gürtel meiner Hose und zählte weiter auf. „Und an meinen Brüsten habe ich auch mehrere Narben. Neben drei, vier kleinen, durch immer wieder kehrende lokal Rezidive, sind mittlerweile auch zwei ganz große Quernarben zu sehen, die mich an meine beidseitige Mastektomie erinnern, für die ich mich nach der dritten Diagnose Brustkrebs innerhalb von acht Jahren entschieden hatte“. Und dann passierte es – Ein kurzer, für sie unbemerkter Moment der Traurigkeit ereilte mich, der sich, gefolgt von einem funkelnden Impuls aus meinem Herzen kommend, in liebevolle Dankbarkeit wandelte. Bis heute habe ich immer mal wieder leichte Anflüge der Wehmut. Kintsugi ist eben ein mehrstufiger Prozess.
Sie blickte mich weiterhin wortlos an und ich sah, wie ganz plötzlich Tränen in ihre Augen schossen. „Aber warum weinst Du denn nun?“, reagierte ich erschrocken. Das war das wenigste, was ich damit erreichen wollte! „Weißt Du, noch vor der Diagnose war es für mich ein angsterfüllter Gedanke, die Narben an der Brust könnten diese entstellen“, offenbarte ich weiter und versuchte sie damit etwas zu trösten. „Ich machte mir Sorgen, ob ich meinem Freund mit Narben noch gefallen und ich mich selbst auch noch als schön empfinden könne.“ Ich schaute ihr tief in die Augen, von denen sie sich mit einem Taschentuch ihre Tränen abtupfte. „Und heute, mein Schatz, liebe ich jede einzelne Narbe! Egal wie groß, klein, dick oder markant! Einfach jede! Sie sind ein Teil von mir und sie erzählen meine Geschichte!“ Zum, ersten Mal während meines Monologes konnte ich ein leichtes Nicken bei ihr erkennen. „Noch drei Monate hätten mir die Ärzte zu leben gegeben, hätten sie mich damals nicht auf meinen Wunsch hin operiert. Und heute, elf Jahre später, sitze ich hier immer noch vor Dir!“ Ein kleines dankbares Glückslachen hörte ich befreiend aus ihr hinaus blubbern. „Und ja, auch während diesen elf Jahren ist nicht alles nach Plan verlaufen. Der Krebs kam mehrfach wieder. Forderte viele weitere Operationen, Chemos, Bestrahlung, Mastektomie, Punktierung und Eingriffe der sich auf andere Körperbereiche ausgedehnten Metastasen. Und das, mein Schatz, sind nur die Narben, die ich auf meinem Körper trage!“ Ich machte eine kurze Pause und hörte auf mein Gefühl, bevor ich weiter fortfuhr. „Auch ich bin manchmal traurig darüber, was alles passiert ist. Manche Seelen tragen viel in diesem Leben! Doch diese Narben, mein Schatz, stehen für meinen Weg, für mein Leben und alles, was ich bis hierher erlebt und erreicht habe! Wenn sie nicht wären, wäre ich heute ein anderes ICH. Wenn sie nicht wären, wäre ich heute nicht mehr!“
Und so gibt es keinen einzigen Grund, weshalb wir unseren Narben verstecken sollten. Im Gegenteil, wir sollten sie mit Stolz tragen und sie offen zeigen. Denn all die Narben auf unserem Körper sind wir, sind unser Leben. Sie fügen sich auf unserer Haut und in unserem Seelenleben ein und ergänzen uns zu einem neuen Ganzen. Nur viel reifer, weiser und schöner!
Genau, wie bei Kintsugi: Das Gebrochene wird sorgsam und mit genügend Zeit, wieder glatt und geschmeidig zusammengefügt ohne dabei den Bruch zu kaschieren. Mit besonderen Materialien wird dieser hervorgehoben, um in neuer Schönheit lebendig zu erstrahlen. Doch das Wertvollste daran ist nicht die dadurch entstandene neue Schönheit des Objektes an sich, sondern die Erkenntnis des Betrachters, dass die wahre Schönheit genau in dieser Einzigartigkeit des Makels und dem neu eingehauchten Leben liegt.
Monique Koller, geb.1978, verstorben im April 2021. Erstdiagnose 2009 MammaCa. Mehrere Lokalrezidive gefolgt von beidseitiger Mastektomie. Stand 09.2020: Metastasiertes MammaCa.
Monique findet ihr auf Instagram als ms_never_stop_being_awesom
Meine liebe Monique,
leb wohl, du bezaubernde und lebenskluge junge Frau...
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Moschti (Dienstag, 27 April 2021 22:05)
Dankeschön .... hab sie sehr sehr gegen gehabt... liebe nennen das einige.... sie war das schönste, reinste Wesen welchem ich he begegnet bin
Ronny (Dienstag, 04 Mai 2021 21:07)
Du wirst immer als liebevoller Mensch in meinen Herzen bleiben…