In Erinnerung an Caro

Lisas Nummer auf dem Handy-Display. Ich melde mich so ruhig, wie es mir nur möglich ist. Konzentriere mich auf die Worte, die kommen und nehme erstmal nur wahr, dass es weder eine Schreckens- noch eine Todesnachricht ist. Mit beidem hatte ich gerechnet, hab mich gefürchtet vor dem Satz „Die Mama ist tot.“ Hab mich gewappnet, versucht eine Reaktion einzustudieren, Worte vorbereitet und Handlungen. „Lisa“, so würde ich gesagt haben, „bleib ruhig, ich setz mich ins Auto und bin gleich bei dir.“ Oder hätte ich gesagt „bei euch“?

 

Als ob es darauf ankäme...

 

Ich hätte gewusst, dass wir als erstes den Hausarzt hätten rufen müssen, der den Tod feststellt, den Zeitpunkt, die Ursache. Er würde derjenige sein, der Caros Tod sozusagen bürokratisch verarbeitet. Anschließend ein Anruf im Christhophorus Hospiz und die Hoffnung, dass von da aus geregelt werden würde, was dann eben zu regeln wäre. Wir wären zu dritt bei Caro gesessen, Lisa, Carina und ich, die beiden Hunde um uns rum und hätten geredet, geweint, geraucht... Aber es ist anders gekommen, Gott sei Dank. Denn Lisa sagt: „Das Hospiz hat angerufen. Mama kann da morgen hin.“ Als der Inhalt des Satzes bei mir ankommt, bin ich erleichtert. Ein paar Sekunden lang ist nichts anderes in meinem Bewusstsein als nur „Caro lebt“, „Caro ist nicht gestorben“.


Caro kann ins Hospiz. Diese Nachricht ist, jetzt, wo sie so knallhart da liegt, aber auch eine erschreckende. Caro selbst hat sie herbeigesehnt, und im Verlauf der letzten Monate haben auch ihre beiden Töchter Lisa und Carina sich erfolgreich eingeredet, dass der Umzug ins Hospiz „für alle das Beste“ wäre. Das ist es, zweifelsohne. Eine todkranke, völlig geschwächte Frau, die zunehmend an Erstickungsanfällen, Schwindel und Bewusstseinseintrübungen leidet, rund um die Uhr in guten, kompetenten Händen zu wissen, ist ohne Frage eine gute, beruhigende Sache. Niemand bestreitet das. Und doch... und doch macht das, was da morgen passieren soll, so viel Angst, so viel Schmerz, dass man lieber laut „Nein“ schreien möchte, als Ja zu sagen zum nächsten Schritt auf diesem langen Weg des Sterbens.


So viele Schritte haben die drei Frauen schon gehen müssen, und immer war der nächste, der gekommen ist, der schwerste. Auch weil alle Beteiligten wissen, dass der allerschlimmste ihnen noch bevorsteht, einer der obgleich nicht wirklich unaussprechlich, so doch so ungeheuerlich sein wird, dass man scheinbar gerne bereit ist, die Zwischenstationen klaglos hinzunehmen.


Morgen, am Dienstag, ist es also soweit: Caro wird ihre letzte Unterkunft beziehen. Wird sich verabschieden müssen, von beinahe allem, was bisher ihr Leben ausgemacht hat. Am schmerzvollsten wird der Abschied von den beiden Hunden sein. Bailey und Santa waren Caros ständige Begleiter im letzten halben Jahr, das sie nur noch zu Hause verbringen konnte, während der Krebs, der in Caros Lunge seinen Anfang genommen hat, sich weiter und weiter in ihren Körper gefressen hat. Schon bei der Diagnosestellung vor 17 Monaten war unbarmherzig klar, dass keine Therapie der Welt sie würde retten können. Ein Wunder vielleicht, aber dazu muss man wissen, dass Caro nun so gar nicht der Mensch ist, der daran glauben könnte. Statt Zeit zu gewinnen durch allerlei Versuche, das Wachstum und die Ausbreitung des Tumors in die Länge zu ziehen, hat sie sich dafür entschieden, das bisschen Zeit, das ihr noch bleiben würde, weitgehend unbeeinträchtigt von medizinischen Belästigungen zu verbringen.

Eine kluge Entscheidung, wie ich finde, eine, von der ich nicht weiß, ob ich den Mumm hätte, sie zu treffen. Caro hat sich in die Hände von Palliativmedizinern und -fachleuten begeben und es, soweit ich weiß, keine Sekunde bereut. Seit einem halben Jahr begleite ich sie als ehrenamtliche Helferin dieses ambulanten Palliativteams auf ihrem Weg. Ich bin glücklich, stolz und vor allem sehr dankbar, dass ich das tun darf. Dass sie mich mitnimmt, ehrt mich.


Morgen gehen wir alle zusammen diesen nächsten Schritt ins stationäre Hospiz. Viel Tröstliches gibt es in so einer Situation wirklich nicht. Nur eines und das zählt so weit wie zum Mond und wieder zurück: Niemand ist allein, wir tun es zusammen.


Ich stehe vom Tisch auf und sage: „Moment, ich hole schnell einen Kuli aus dem Zimmer.“ Im Wegdrehen von der Terrasse ins Hausinnere schießt es mir ganz schnell, aber glasklar in den Kopf. Das hier ist eine Szene wie aus dem Urlaub, so oder so ähnlich habe ich das schon erlebt. Der gedeckte Frühstückstisch auf der Terrasse im Schatten, im Garten die Sonne – schön, dass sie scheint und genauso schön, dass sie weit genug weg von unserem Sitzplatz ist. Teller mit angeknabberten Semmeln, halbleere Kaffeetassen, Saftränder und zerknüllte Papiertüten, Gebäckteile neben Käse- und Wursttellern, um den Tisch Menschen, die in ihren Stühlen lümmeln, eine zufriedene Müdigkeit angesichts des üppigen Essens mischt sich mit dem Lachen, das Geschichten der Marke „Weißt Du noch, damals...“ hervorbringen. Die Hunde haben sich lang ausgestreckt zwischen die Menschen- und Stuhlbeine gelegt – ein Sonntag, wie er sein soll, in einem Ferienhaus irgendwo im Süden. Ein schöner Tag, eine angenehm heitere Stimmung, die Überschrift „Glücklich und zufrieden“ wäre die passende, würde man ein Foto von dieser Szene machen.


Die Wirklichkeit ist eine andere: Schauplatz ist die Effnerstraße im Norden von München. Die imaginierte Ferienappartementanlage ist in Wahrheit das Christophorus-Hospiz und die Menschen, die hier sitzen besuchen Caro. Die Frau also, die todkrank ist und seit zweieinhalb Wochen hier lebt, wo Menschen zum Sterben herkommen. Sie und alle anderen an diesem Tisch wissen, dass Caro nicht mehr lange zu leben hat und mittlerweile sieht man es dieser zarten, so zerbrechlich dünn gewordenen Frau auch an, dass das Leben sich Schritt für Schritt aus ihrem Körper zurückzieht. Jeder kennt die Fakten, weiß um die Tumore in ihrer Lunge, im Gehirn und vermutlich längst auch an anderen Stellen ihres so ausgezehrten Körpers.


Alle, die hier sitzen vereint die Angst vor dem Tag X, vor dem Unausweichlichen, dem Unleugbaren, vor dem Tod eines geliebten Menschen, vor den Tränen und dem schlimmen Gefühl in der Magengrube, das entsteht aus einer Mischung von Trauer, Verzweiflung und Sehnsucht.
Niemand weiß, wie das Ende tatsächlich aussehen wird, aber Caro hat einen großen Teil ihrer Angst davor verloren. Wir hatten, noch zu Zeiten als Caro in ihrer eigenen Wohnung gelebt hat, lange Gespräche über das mögliche Wie ihres Sterbens. Caros Horrorvorstellung war die, jämmerlich ersticken zu müssen, hilflos nach Luft japsend, qualvolle Minuten, die kein Ende nehmen wollen - eine, in der Tat, kaum aushaltbare Vorstellung. Nun bin ich kein Arzt und weiß viel zu wenig über körperliche Zusammenhänge bei Krebserkrankungen. Eines aber weiß ich aus der Erfahrung mit anderen Patienten, die ich begleitet habe: Nämlich, dass es Medikamente gibt, die, wenn schon nicht heilen, so doch die schlimmen Symptome einer Tumorerkrankung, so lindern können, dass der Sterbeprozess weder ein schmerzvoller noch ein beängstigender sein muss. Zumeist habe ich Menschen erlebt, die ruhig und friedlich sozusagen hinüber geschlafen sind vom Leben in den Tod, der Palliativversorgung sei Dank. Alles das erzähle ich Caro, die ruhig zuhört und hin und wieder nickt. Tage später hat Caro mir damals gesagt, wie sehr sie diese Aussicht beruhigt habe und auch die Tatsache, dass ich ihr versprochen habe, dass sie in ihrem Sterben nicht allein sein würde. Seitdem, so sagt sie, sei sie quasi „tiefenentspannt“.


Und so ist eben auch dieser Sonntag ein so entspannter. Jetzt und hier und heute, das spüren wir alle, geht es uns gut, freuen wir uns, dass wir uns haben, lachen über Albernheiten und reden sogar über die Zukunft. Planen echte Urlaubsreisen und niemand scheint sich daran zu stören, dass es die so wohl nicht mehr geben wird. Heute ist Glücklichsein. Das halten alle ganz fest. Was morgen sein wird, das werden wir sehen. Diesen Sonntag haben wir erlebt, den kann uns keiner mehr nehmen.


Es hätte noch ewig so weitergehen können. Natürlich haben wir alle gewusst, dass Caros Tod nicht verhandelbar war, dass er kommen würde. Und doch haben wir uns nur zu gerne vorgemacht, jeder sich selbst und wir alle uns gegenseitig, dass es so, wie es war, gut war und endlos. Caro war krank, keine Frage, aber sie saß doch immer mit uns auf der Terrasse, wir haben miteinander geredet, gelacht, gegessen, von früher erzählt und Pläne gemacht. Niemand hat je gesagt, dass es dieses Später nicht geben würde, das es für Pläne doch unabdingbar braucht. Gedacht ja, aber ausgesprochen hat es niemand. Jetzt gibt es kein „Später“ mehr. Caro ist tot. Dieser Satz lässt sich so unverschämt leicht hinschreiben. Verstanden haben wir ihn noch nicht. Das ist noch immer ein Ding der Unmöglichkeit.

Noch überlege ich, wann ich sie das nächste Mal im Hospiz besuchen werde. Noch schießt mir unzählige Male am Tag durch den Kopf: Das muss ich Caro unbedingt erzählen. Noch höre ich ihre Stimme, sehe, wie sie mit ihren langen Fingernägeln eine Zigarette aus der Packung jongliert, ich spüre ihre dünnen Kinderärmchen, ihre knochigen Schultern bei der Umarmung zum Abschied, die sich nie, nie, niemals wie der letzte angefühlt hat.


Das Sterben, dieser immer noch so unergründliche Prozess zwischen dem Leben hier und dem Tod da, hat einen Tag und eine halbe Nacht gedauert. Irgendwann hat sie die Augen einfach nicht mehr aufgemacht, als ich ihr Zimmer betreten habe. Irgendwann hat sie nicht mehr gesagt, dass sie so müde sei, dass sie mich gar nicht hätte kommen hören. Irgendwann habe nur noch ich gesprochen, ihren Arm gestreichelt, den Blick nicht mehr von ihr gewendet, um keine noch so winzige Regung zu versäumen. Irgendwann saß ich mit Caros Töchtern Carina und Lisa nur noch am Bett und wir haben uns abgewechselt, ihr mit einem feuchten Waschlappen das heiße Fieber von der Stirn, dem Gesicht und dem Hals zu wischen. Irgendwann wussten wir es und auch wenn Caro nichts mehr sagen konnte, so weiß ich, dass auch sie es gewusst hat, dass das Ende begonnen hatte. Und Caro war, wie sie immer gewesen ist, ganz ruhig, ganz unaufgeregt. Sie war einverstanden, hat es kommen lassen das Sterben, hat sich nicht gewehrt. Und wir - wir waren es auch. Caro war die Chefin, war es immer gewesen. Wenn es etwas gibt, das uns tröstet, dann ist es genau das: Sie ist es bis zum letzten Atemzug geblieben.


In den Nachtstunden, die Caros letzte sein werden, sieht es in ihrem Zimmer aus wie in einer Jugendherberge. Freunde sind gekommen. Nachtlager aus Schlafsäcken, die am Boden liegen, Tüten mit Essen und Getränken, ein schnell organisierter CD-Player neben einem Sammelsurium von Musik-CDs, Seargent der Schäferhund hat seinen Platz dazwischen gefunden, und mittendrin in diesem 10 Quadratmeter-Chaos liegt Caro in ihrem Bett, das schräg im Raum steht. Jeder hat die Möglichkeit, ihr ganz nah zu sein und wieder Abstand zu nehmen. Wir alle wechseln uns wortlos ab, sitzen reihum an und in ihrem Bett. Tun, was sie immer gewollt hat: Dasein. Die Angst beim Sterben allein zu sein, hat Caro mit vielen Menschen geteilt. Jetzt sind alle ihre Lieben da, und das ist ein Glück, das sich bis in den letzten Winkel des Zimmers legt.


Caro ist gestorben, vor einer halben Stunde etwa. Wir sitzen im Dunkeln auf der Terrasse. Wir reden leise, wir weinen, wir lachen, der Hund versucht im Stockfinsteren den Igel zu jagen, der im Hospizgarten wohnt. Jemand ruft: „Lass das, Searge, das ist Caros Igel!“ Sie hat uns immer erzählt, dass er morgens vor ihrem Fenster zum Trinken ans Wasserschüsselchen gekommen ist. Er ist also auch da. Und so sind wir, wie wir es immer waren: zusammen.

 

Servus Caro, wir haben dich lieb.


Susanne Holzapfel ist als Redakteurin tätig und im Münchener Raum seit über 25 Jahren ehrenamtliche Hospizbegleiterin. Als suusl01 auf Instagram erzählt sie in warmherziger und humorvoller Art und Weise von ihrem Alltag mit Mann und Fellnasen in München und der schwäbischen Prärie.

 

Aus Susannes Zeilen über das begleitete Sterben Caros, sprechen Wertschätzung und Liebe, die die beiden in den letzten Lebensmonaten Caros miteinander verband.

 

In Gedenken an Caro.


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