Heute. Ein Raum. Eine Richterin. Zwei Anwälte. Ein geschiedenes Elternpaar. Der Mann erwartet von seinem 19-jährigen behinderten Sohn, in einem Heim zu leben. Getrennt von seinem sozialen Umfeld. Von seiner Mutter. Damit Mann nicht Gefahr läuft, evtl. Betreuungsunterhalt an die Mutter des Kindes zahlen zu müssen. Eine Mutter, die gegen die vorherschende Meinung kämpft, dass schwer behinderte Menschen pauschal in einem Pflegeheim leben sollten. Die ihrem Sohn eine lebenswerte und individuelle Zukunft wünscht. Und die wieder alles aufrollen, erklären und begründen muss, warum dieser junge Mann weiterhin Zuhause leben sollte. In seinem gewohnten Umfeld. Behütet in Geborgenheit und Liebe...
So geschehen in der vergangenen Woche. Justin war noch sehr klein als mir zum ersten Mal insistiert wurde, dass es doch am besten gewesen sei, wenn mein Sohn nie geboren worden wäre? Warum ich mein Kind in der Schwangerschaft nicht abgetrieben hätte? Wie erstaunlich es sei, dass ich meinen Sohn trotz allem lieben würde? Warum ich mein Kind in meinem EIGENEN Interesse nicht lieber früher als später in ein Heim gebe? Welcher Mann nimmt dich denn so noch? Ja wie, dein Sohn kann keine Werkstatt besuchen? Was stimmt mit ihm denn nicht? Der sieht doch gar nicht so behindert aus? Unzählige Gelegenheiten in denen man mich wissen ließ, dass ich mich AUFOPFERN würde! Mein Leben hat NICHTS mit sich aufopfern zu tun. Merkt euch das bitte, ihr da draußen. Es IST kein Opfer. Das ist Liebe. Zu meinem Jungen mit dem charmanten Wesen und großen Herzen, der zu einem hübschen jungen Mann herangewachsen ist.
JEDE dieser Aussagen ist ein absoluter Schlag gegen meine innersten Überzeugungen. Weniger, weil es gegen mich geht. Sondern viel mehr wegen meines Sohnes. Der sich nicht gegen Blicke, scheinbar wohlgemeinte Ratschläge und Diskreminierungen wehren kann. Legitimiert einzig und alleine aus dem Grund, weil mein Sohn mit einer schweren Mehrfachbehinderung geboren wurde. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig behindert ist.
JEDE dieser Aussagen steht für die öffentliche Meinung zu behinderten Menschen. Dagegen wehre ich mich. Weil ich der Überzeugung bin, dass mein Sohn trotz schwerer geistiger Behinderung das Recht hat gefragt zu werden, WIE er leben möchte. Und das wir alles daran setzen sollten, seinen Wunsch zu respektieren und zu fördern. Es kann NICHT Ziel und Zweck unserer Gesellschaft sein, Menschen konsequent in Heimen unterzubringen. Möglichst weit weg aus den Innenstädten, damit man nur ja nicht mit diesem ELEND konfrontiert wird. Und schon mal gar nicht in der eigenen Nachbarschaft. Wie würde das denn aussehen?
ICH möchte meinen Sohn keine hunderte von Kilometern entfernt in einem Heim unterbringen, das für ihn vielleicht bestmöglichst geeignet ist. Wenn man eines dieser bestmöglichen Heime gefunden hat, bedeutet dies ohnehin noch lange nicht, dass man in diesem einen Platz für sein Kind bekommt. Denn die Wartelisten für Menschen mit einem so hohen Förderbedarf wie für meinen Sohn, sind lang. Und wenn du einen dieser raren Plätze ergattert haben solltest, dann hast du noch lange keine Kostenzusage von den zuständigen Trägern. Meist beginnt eine zähe und ernüchternde Verhandlungsphase. Nicht selten, dass betroffene Eltern sich gezwungen sehen, rechtliche Schritte einleiten zu müssen.
Das kann nicht sein, fragst du dich jetzt?
DOCH, genau so verhält es sich aber. Letzten Endes geht es immer um Kosten, die möglichst gering gehalten oder im besten Fall zu einem anderen Träger versucht werden abzuschieben. Viel zu oft wird auf solchen Wegen gegen das Interesse der betroffenen Personen entschieden. Das ist ein entwürdigender und frustrierender Ablauf. Immer wieder. Ganz gleich ob es sich um Krankenkassen, Kostenträger oder Behörden handelt.
Ich suche nach Lösungen, weil wir Lösungen brauchen. Aber es schnürt mir immer wieder die Luft zum Atmen ab, weil ich dies und das an Auflagen zu erfüllen und trotz aller ärztlichen Unterlagen und Bescheinigungen, doch noch ein weiteres Gutachten (als wenn mein Sohn in einem weiteren Gutachten vielleicht weniger behindert sein könnte!) oder Nachweis vorzulegen habe oder einen dringenden Widerspruch gegen einen Bescheid zu formulieren habe. Mit jeder bewältigten Hürde bin ich erleichtert, erneut für uns die richtige Lösung gefunden zu haben. Bis zum nächsten Mal, wenn es dann wieder heisst, das dies und das erledigt sein sollte bis zu einem festgesetzten Datum und ich erneut anfange zu routieren. Denn ich will das Problem schnell vom Tisch haben, damit ich wieder frei atmen kann...
WENN du dich in unserem System nicht auskennst, dich zudem nicht wehren kannst, weil es dir zum Beispiel an Hintergrundinformationen oder rechtlichem Wissen mangelt, es dir sprachlich schwer fällt dich auszudrücken oder alles glaubst was dich ein Sachbearbeiter wissen lässt - hast du in diesem System von vorne herein die Arschlochkarte gezogen. Das ist Fakt...
ES ist ein ewiger Kampf sich mit neuen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Oft um Grundsätzliches. Jedes Einholen von Informationen, an Unterstützungsmassnahmen, neuen Rezepten und Verordnungen, Behördengängen, Kliniktagen, Arztgesprächen oder dem Unding eine behindertengerechte und bezahlbare Wohnung zu finden udm – kostet Zeit und Kraft. Neben allem anderen was ich zu bewerkstelligen habe. Bei mir sind es mein Teilzeitjob (und ich bin meinem Chef soooo dankbar über die Möglichkeit, mir meine Arbeitszeit so einrichten zu können, dass ich unser Leben organisiert bekomme. Trotz allem oder vielleicht auch gerade wegen allem – "Danke Chef, für dein Vertrauen!!!!!"), meine Brustkrebserkrankung mit all ihren Spätfolgen und Nebenwirkungen der Behandlung die noch immer ihren Raum fordert und mein Engagment in diesem Bereich, unser ganz normales Leben und tägliches Einerlei. Ganz schön viel für unsere kleine Familie! Aber ich mach das alles. Das ist mein Leben. Und das liebe ich. Und meinen Sohn nochmal so sehr!
WIR haben eine sehr enge Bindung zueinander. Und ja, ich ermögliche meinem Sohn Dinge von denen ich überzeugt bin, dass sie ihm neben seinem alltäglichen Ablauf in einer Tagesförderstätte, gut tun. Ob das interessante Ausflüge sind, Theater- und Konzertbesuche, gutes Essen, Besuch bei Freunden und vieles mehr. Ganz normales Leben eben. Ich bin überzeugt davon, dass das alles mit dazu beigetragen hat, dass Justin dermaßen stabil, glücklich und zufrieden in seinem Leben steht. Und eben sehr gerne Zuhause bei seiner Mama lebt. Auch wenn es bei uns mal kracht. Das passiert eher selten und meist auch nur dann, wenn der Druck von außen viel zu groß ist.
UNSERE Freunde und Familie wissen, dass Justins Behinderung nicht das ist, was mich gelegentlich an den Rand der Verzweiflung bringt – sondern das Kämpfen. Dieses ewige Argumentieren und Einfordern müssen, für die banalsten Dinge im Leben. Ich mich immer wieder gegen Menschen und deren überholte Vorstellungen wehren muss, die meinen uns vorgeben zu müssen, wie mein Kind und ich zu leben haben. Menschen, die von einer gut umgesetzten und gelebten INKLUISION scheinbar noch nie etwas gehört haben. Wobei wir von dem Punkt selbstverständlich gelebte INKLUSION generell noch extrem weit entfernt sind in unserer Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen derart gekonnt behindert und ausgrenzt.
MIT meiner Ansicht stehe ich nicht alleine. Wir Eltern, und mit mir viele Eltern in Aschaffenburg und Umgebung, wünschen für unsere Kinder wohnortsnahe und individuelle Wohnmöglichkeiten. Jenseits von dem überholten Schubladendenken, welches man für unsere Kinder bereit hält. Auch für die mit schweren und schwersten Behinderungen. Die generell immer und immer wieder durch alle Raster fallen. Und mit ihnen wir Eltern.
In der letzten Woche ließ man mich wissen: "Was Sie zum Ausdruck bringen, ist NUR Ihre Behauptung als Mutter."
Ja, es ist meine Behauptung als Mutter. Denn mein Sohn war nicht vor Ort um für sich selbst sprechen zu können. Aber das gesteht man meinem Sohn in der Regel noch nicht mal zu, dass er für sich selbst Wünsche und Vorstellungen äußern könnte. Denn er ist ja DER Behinderte. Der zudem nur schwer verständlich sprechen kann. Und ich bin NUR seine Mama. Ganz gleich wo ich bin und in welchem Kreis ich mich bewege. Ich bin immer die mit dem behinderten Kind. Und ich bin so was von stolz auf mein Kind.
Euch elenden Ignoranten kann ich nur entgegnen:
Wenn IHR der Meinung seid, dass es in einem Heim ach so toll zu leben ist: Dann checkt euch in einem solchen für eine Woche zur Probe ein! Oder quartiert euch in einem Altenheim ein – für manch einen von euch ist es bis zur Rente ja nicht mehr allzu weit hin – dann fällt euch das Eingewöhnen nicht so schwer! Weil je früher, desto besser. Das ist eure eigene Argumentation.
- DU wirst dort essen, was man DIR vorsetzt ohne zu fragen, ob DU Appetit darauf hast
- Gehst ins Bett, wann man für DICH entscheidet, dass es nötig ist, auch wenn es erst 20:00 Uhr sein sollte und DU eigentlich gerne noch eine Fernsehsendung sehen möchtest
- Lass DIR als Mann von einer DIR fremden Frau den Po abwischen und DEINE tägliche Intimpflege verrichten; einfach, weil der Personalschlüssel keine passende Lösung bietet
- DU möchtest heute ins Kino gehen? Sorry, dass geht heute nicht. Vielleicht nächsten Monat?
WIE gesagt: Es gibt großartige Einrichtungen und Wohngruppen. Es gibt wunderbare Menschen, die ihr ganzes Herzblut in die Betreuung und Pflege für die ihnen anvertrauten Menschen einbringen. Aber es ist keine Seltenheit, dass viele Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen sehr jung in einem Altenpflegeheim leben müssen, weil es zu wenige dieser großartigen Plätze gibt.
WAS ist also so falsch daran, meinem Kind sein Zuhause bewahren zu wollen? Wenn ich erneut an Brustkrebs oder sogar an Metastasen erkranken sollte, wird dies im schlimmsten Fall immer noch früh genug sein mit der Heimunterbringung. Aber dann ist Justin bitte in meiner Nähe untergebracht. Damit diese wertvolle und stabilisierende Bindung zwischen meinem Sohn und mir nicht gekappt wird. Diese Möglichkeit einer individuellen Wohnform muss in Aschaffenburg überhaupt erst einmal geschaffen werden. Derzeit sind wir davon noch weit entfernt.
MIR wurde als Mutter in den letzten Jahren oft nachgesagt, ich sei unbequem. Weil ich Anspruchsvoll sei. Weil ich mehr möchte als das wenige, was viele meinem Sohn zugestehen möchten. Viele ziehen widerrum aus genau diesem Grund ihren Hut vor mir. Weil ich mich nicht beirren lasse. Weil ich Justin seinen Platz im Leben ermögliche. Mitten unter uns. Weil ich eine so großartige und besondere Mutter sei. Und wir beide, zusammen und als Einzelperson, etwas besonderes sind. Ich bin dabei die, die immer lächelt. Selbst wenn ich die traurigsten Geschichten erzähle. Mein Lächeln ist jedoch mein Schutzschild gegen das Außen und eine meiner stärksten Waffen in Verhandlungen.
Ich bringe die Eleganz mit, unser Leben leicht aussehen zu lassen. Dabei ist es das nur selten. Umso mehr wertschätze ich die leichten Momente. Ich wünsche mir weniger Bürokratie. Ein
offeneres System für Betroffene, die von unabhängigen Stellen beraten werden. Damit wir mehr Freiraum für die wichtigen Dinge im Leben haben. Ich wünsche mir mehr zu reisen. Alleine und gemeinsam
mit meinem Sohn. Im kommenden Jahr in eine bezahlbare und behindertengerechte Wohnung ziehen zu können. Gerechtigkeit und mehr Akzeptanz dafür, dass wir sind, wer wir sind. Leicht sein
dürfen...
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